Miron Zownir
19.01.2013 –
22.02.2013
Offene Wunden – Bilder aus dem freien Osteuropa
Seit 1995 bereist Miron Zownir die Länder des ehemaligen Ostblocks, darunter Russland, Polen, Bulgarien und die Ukraine. Ihn interessiert die Verwahrlosung und Hoffnungslosigkeit nach dem Ende des real existierenden Sozialismus. Seine Bilder erzählen die Geschichten verarmter Menschen, die an den Rändern der Metropolen in entlegenen U-Bahn-Stationen hausen und an Kälte, Alkoholismus, Gewalt und Armut leiden. Gelegentlich stößt er auf Leichen, für die sich niemand interessiert, bis die Polizei auf den Fotografen, den sie interessieren, aufmerksam wird. Die Menschen, die er portraitiert, gleichen offenen Wunden. Sie sind in vielfacher Weise beschädigt und werden nicht mehr ganz. Sie gleichen einer Kastrationsdrohung. Man möchte sie nicht ansehen, schließlich könnte man werden wie sie.
Radek Krolczyk
Wunden
Erschienen in: Offene Wunden | 2013 | Galerie K' und Mox und Maritz, Bremen
Luis Buñuel stellt in seinem Film „Ein andalusischer Hund“ (1929) die Unversehrtheit des menschlichen Körpers zur Disposition: Es gibt dort eine Szene, in der ein junger Mann voller Entsetzen seine offene Hand anstiert. Eine Nahaufnahme zeigt, wie Ameisen aus dem Fleisch herauskrabbeln. Seine Handfläche weist ein kleines Loch auf, aus dem die Insekten ans Licht kommen und durch das sie wieder verschwinden. Es scheint, als hätten sie ihr Nest im Inneren seines Körpers. Kurz darauf sieht man auf der Straße eine abgetrennte Hand herum liegen. Eine Menschentraube hat sich um sie herum gebildet, manche der Passanten vergewissern sich tastend, ob ihre Hände noch da sind. Sie sind es noch. Mit den Passanten teilt der Zuschauer des Films seine Angst um die eigene Vollständigkeit. Dass diese Vorstellung der „Vollständigkeit“ zunächst nur eine Fantasie beschreibt, ist so wahr, wie die Angst selbst, die dieser Fantasie entspringt. Die Kastrationsdrohung wirkt: Die erst zerfressene, dann abgetrennte Hand da auf der Straße gefällt mir nicht. Ich möchte es den Passanten auf dem Bildschirm gleich tun und prüfen, ob ich noch beide Hände habe. Die Bilderwelt des Klassikers des filmischen Surrealismus ist rein symbolischer Natur. Wie in der Kirche werden Bilder als Stellvertreter für vielerlei Eigenschaften bemüht.
Sind die Osteuropa-Fotografien von Miron Zownir symbolisch? Wohl kaum. Dafür ist der Anteil an Wirklichkeit in ihnen zu groß. Das Leid auf Zownirs Bildern wird nicht stellvertretend erlitten. Leid und Tod folgen keinem höheren Sinn. Das erschreckende ist ihre absolute Sinnlosigkeit. Und dennoch sind die Fantasien und Ängste, die hier evoziert werden, ähnlich denen des Symbolspektakels des „andalusischen Hundes“. Mitleid ist eine Projektionsleistung. Mitleiden können wir nur, indem wir uns im Gegenüber erkennen können. Das ausgeschlagene Auge der alten Frau in Moskau betrifft aus Furcht, ein Auge zu verlieren.
Bei Zownir sehen wir Menschen mit allerlei Gebrechen, mit Wucherungen, blutenden Wunden und amputierten Gliedmaßen. Sie bevölkern eine Art Zwischenwelt, eine Welt zwischen Leben und Tod. Die Menschen, die Zownir zeigt, sind in vielerlei Hinsicht beschädigt. Ihre Schäden haben sie im Laufe ihres Lebens erlitten. Sie sind das Ergebnis eines schlechten Lebens, eines Lebens unterhalb der Möglichkeiten des Standes der Produktivmittel. Durch Armut, Obdachlosigkeit, Gewalt, soziale Kälte, Alkoholismus und körperliche Versehrtheit werden sie zugrunde gerichtet.
Sie leben und sterben, wie es heute niemand müsste. Sie leben und sterben, als gäbe es die gigantische Warenansammlung, von der Karl Marx schreibt, nicht. Sie leben und sterben, als gäbe es keine Wohnungen, Krankenhäuser, Prothesen, Kleidung und Nahrungsmittel. Ihr Leid ist nicht nur ohne Sinn, es entbehrt ihm so jedwede Notwendigkeit.
Viele seiner Protagonisten hat Miron Zownir in U-Bahnhöfen erwischt. Dort hausen sie, im Stich, aber auch in Ruhe gelassen. Hin und wieder stößt Miron Zownir dort auf Leichen, einige besucht er regelmäßig über wenige Tage hinweg. Außer dem Fotografen gibt es niemanden, der sich für die toten Körper zuständig fühlt. Sobald die Sicherheitskräfte den Fotografen bemerken, beginnen sie sich für ihn zuständig zu fühlen. Sind die Eingänge der U-Bahnhöfe die offenen Wunden von Moskau und St. Petersburg?
Anstelle von Symbolik hat man es hier mit etwas zu tun, das mit Dietmar Dath Drastik zu nennen wäre. Die Bilder sind Ergebnis kurzer und heftiger Auseinandersetzungen zwischen Menschen, dem Fotografen und den Fotografierten. Die Fotografierten stoßen dem Fotografen zu, aber auch der Fotograf wiederfährt den Fotografierten. Er sieht sie, während sie sehen, dass er sie sieht. Dann merken sie, dass es der Fotograf ist, der sie als letzter lebend sieht. Ihre Augen sind leer, aber sie sind auf ihn gerichtet. Einige seiner flüchtigen Straßenbekanntschaften bringen sich für ihn in Pose, einige zeigen ihm etwas. Diese Spannungen, die zwischen dem Fotografen und den Portraitierten bei ihrem flüchtigen Zusammentreffen entstehen, sind den Fotografien anzusehen. Der Fotograf ist kein stiller Beobachter, kein neutraler Dokumentarist und nur selten ein heimlicher Voyeur. Er beansprucht seinen Platz in nahezu jedem seiner Sujets und ist in jedem Bild spürbar anwesend.
Miron Zownirs Fotografien wirken verstörend. Ganz gleich, ob es sich dabei um Portraits von Prostituierten aufden Sex-Piers im New York der frühen 80er oder alkoholkranken Obdachlosen in Kiew von heute handelt - erschreckend wirkt die Distanzlosigkeit, mit der der Fotograf seinen Modellen gegenüber tritt; erschreckend wirkt die Distanzlosigkeit, mit der dann schließlich das Modell dem Bildebetrachter begegnet, man könnte fast sagen: zustößt. Ich betrachte den bettelnden Buckeligen an der Moskauer U-Bahn-Haltestelle nicht gerne. Es ist wie mit der abgetrennten Hand: Das Bild stellt eine Drohun darg. Und Mitleid? Mitleid funktioniert nicht ohne Sorge um die eigene Unversehrtheit.